Eine schwere Entscheidung
Steckt man in einer Sache zu tief drin, verliert man den Überblick und damit die Fähigkeit, richtige Entscheidungen zu treffen. In solchen Situationen braucht man einen guten Freund, der mutig genug ist, Licht ins Dunkel zu lassen.
Nagender und ich hatten Glück, denn wir haben so eine Freundin. In den vergangenen Tagen haben wir uns sehr gequält. Da meine Blutwerte täglich Besserung anzeigten, fingen wir an nach und nach meinen Körper zu belasten, um zu testen, was ich aushalte und ob ich endlich bereit wäre, weiter zu reisen. Diese Belastungstests waren frustrierend. Ich konnte keine zehn Minuten am Stück in der Hitze des Tages spazieren gehen. Anschließend war ich so kaputt und schwach, dass ich mindestens zwei Stunden Schlaf brauchte, um mich zu erholen. Ungeachtet dessen schmiedeten wir eifrig Pläne, in welche Stadt wir am nächsten Tag aufbrechen würden. Wir trafen alle Vorbereitungen, bezahlten unser Hotel, kauften Proviant, packten unsere Taschen und machten uns auf den Weg zu „AWAG“, der Hilfsorganisation für Frauen, denn dort parkte unsere Rikscha.
Als wir dort ankamen, musste ich mich auf ein Sofa legen und bin auch sofort eingeschlafen. Als ich wieder wach wurde, saß Sara-Ben, die Leiterin der Organisation, neben mir. Sie ist Anfang sechzig und hat zwei Töchter, die auch für die Organisation arbeiten. Für ihre eigene Unabhängigkeit hat sie viel aufgeben. Sie wollte sich nach ihrer Hochzeit von ihrem Mann nicht vorschreiben lassen, wie sie sich kleiden soll und schon gar nicht, wie sie denken soll. Für ihre Freiheit verließ sie ihren Mann und das einfache Leben in gutem Hause, das sie genoss und tauschte es gegen ein Leben im Slum von Ahmedabad. Hier zog sie allein ihre Töchter groß und arbeitete jeden Tag bei AWAG, um anderen Frauen zu helfen. „Ich war arm, aber glücklich und vor allem frei“, sagte Sara-Ben.
Als ich also auf der Couch bei AWAG aufwachte, saß sie neben mir. „Ihr wollt an den Ozean fahren“, fragte sie mich und sah mich an. Ich musste sofort anfangen zu weinen. Mir ist in dem Moment klar geworden, dass ich es in meinem Zustand nicht schaffen würde weiter zu reisen. Sara-Ben legte ihre Hand auf meinen Kopf (das machen ältere Menschen in Indien so. Es ist eine liebevolle Geste, ein bisschen wie gesegnet werden 🙂 ). „Du hast einen Virus in dir und um den zu besiegen, braucht dein Körper Kraft und Zeit. Du hast Glück gehabt, dass die Krankheit bei dir nicht bedrohlich verlaufen ist. Sei froh darüber und bescheiden und kümmere dich um deine Gesundheit. Für dein Projekt hast du alle Zeit der Welt, du kannst in deinem Leben noch hundert solche Projekte machen. Wenn du aber nicht gesund bist, kannst du gar nichts mehr machen“.
Nagender hatte sich in der Zwischenzeit auch zu uns gesetzt. Das war der Moment, in dem wir unsere Situation wieder von außen betrachten konnten und auch der Moment, in dem wir beschlossen unsere Reise abzubrechen und nach Hause zu fahren.
Mit dem Flugzeug bin ich gestern von Ahmedabad nach Delhi geflogen. Als ich am Nachmittag ankam, hat Nagenders ganze Familie mich herzlich empfangen, mich gedrückt und geküsst. Ich habe mal wieder geheult, aber dieses Mal vor lauter Rührung.
Nagi hat sich allein mit unserer Rikscha auf den Rückweg gemacht. Er ist gestern unglaubliche 17 Stunden gefahren und er wird heute Abend schon in Delhi ankommen. Darauf freue ich mich! Es war sein Wunsch auf der Rikscha zurück zukommen und ein bisschen auch meiner, denn ganz bald werden wir sie wieder brauchen. 🙂