"Wir hatten einen Unfall, aber wir leben"
Als ich die indische Nummer auf meinem Handydisplay sehe, ahne ich schon, dass etwas nicht stimmt. Bei uns in Liederbach ist kurz nach 11 Uhr am Vormittag, als Nagender anruft. „Hello Chrissi, how are you?“ sagt er leise am anderen Ende der Leitung. „What happend?“, schreie ich hysterisch ins Handy. „We had an accident, but we are alive“, sagt Nagender. Mein Herz pocht, mir wird sofort ganz heiß. Ein Unfall auf Indiens Straßen mit unserer wackeligen Rikscha, ohne Airbag, Seitenaufprallschutz, wahrscheinlich hatten die Jungs nicht mal ihre Helme auf. Bilder von blutverschmieren Körpern und abgerissenen Gliedmaßen rasen mir durch den Kopf. „Are you injured?“ , „Yes, no, I don’t know. We are waiting for the ambulance.“ Nagenders Stimme ist zittrig und leise. Er redet wirr und durcheinander. Er sei irgendwo hinter der Stadt Palanpur auf dem Highway und warte auf den Krankenwagen. Er und sein Freund hätten blutende Wunden am Kopf. Seine Schulter schmerze ihn. Alles nicht so schlimm, meint er, aber die Rikscha, die sei kaputt.
Erst später am Tag telefonieren wir noch einmal und ich erfahre, was passiert ist. Gegen Mittag hatte Nagender die Stadt Palanpur erreicht. Dort am Bahnhof traf er Himanshu, seinen Freund aus Mumbai. Nach einem Mittagessen setzten die beiden ihren Weg gemeinsam auf der Rikscha fort. Himanshu ist Filmer von Beruf, er will Nagender bei seiner Arbeit in der Wüste unterstützen.
Nach ein paar Stunden Fahrt machten die beiden eine Kaffeepause und anschließend wollte Himanshu unser Vehikel fahren. Doch dass das offensichtlich gar nicht so einfach ist und ausreichend Übung bedarf, zeigte sich schon auf den ersten Metern. Auf dem Highway verlor Himanshu die Kontrolle über die Rikscha, gab Gas anstatt zu bremsen und verzog hektisch den Lenker.
Zum Glück waren sie zu diesem Zeitpunkt das einzige Fahrzeug auf dem Highway. In wilder Fahrt kreuzten sie die Fahrbahn und krachten in die Mittelleitplanke. Beide flogen aus den Sitzen und hinein in das dichte Dornengestrüpp, das die beiden Fahrtrichtungen von einander trennt. Himanshu sei bewusstlos gewesen, sagt Nagender. In Panik habe er ihn geohrfeigt und sogar Wiederbelebungsversuche gestartet, dann hustete Himanshu und kam zu sich. Einige Menschen aus einem nahen Dorf hatten den Unfall gesehen und kamen herbei geeilt. Sie halfen Nagender die Rikscha zur Seite zu schaffen, riefen einen Krankenwagen und holten Wasser für die beiden Verletzten. Nagender machte ein Video.
Als der Krankenwagen kam, wollte Nagender nicht mit ins Krankenhaus fahren. Nicht ohne seine Rikscha. Er ließ seine Platzwunde an der Stirn verarzten und blieb am Highway zurück, während Himanshu zur Kontrolle ins Hospital gefahren wurde. Die Dorfbewohner kümmerten sich rührend um Nagender. Sie nahmen ihn mit und brachten ihn und unseren lädierten Blauen Blitz zu ihrem Dorf-Schweißer. Alle packten mit an und halfen, die Rikscha zu reparieren. Noch vor Einbruch der Dunkelheit war sie wieder einsatzbereit.
Nagender schäumte über vor Erleichterung und Freude und auch vor Rührung über die engagierte Hilfe. Der Schweißer lud ihn und Himanshu ein, in seinem Haus zu übernachten und mit seiner Familie zu Abend zu essen. Für seine Arbeit wollte er keinen Pfenning haben.
„Vielleicht ist es besser, wenn ihr mit einem Auto weiter reist“, schlage ich Nagender am Telefon vor. Ich mache mir große Sorgen, die Rikscha ist kein besonders sicheres Fortbewegungsmittel. Zwar sind beide dieses Mal mit eher harmlosen Blessuren davon gekommen, aber was, wenn noch andere Fahrzeuge auf der Straße gewesen wären? Doch davon will Nagender nichts hören. „I will drive our Rikscha to the White Rann“, sagt er trotzig. Er will sich nicht schon wieder durch etwas aufhalten lassen. Er will in die Weiße Wüste und zwar mit unserem Blauen Blitz. Er lässt seinen Freund entscheiden, ob er nun noch mitfahren möchte, oder lieber wieder nach Hause fährt. Himanshu bleibt dabei.
Schon am nächsten Morgen wollen die beiden Freunde ihre Fahrt fortsetzen. Wenn alles gut geht, können sie die Salzwüste erreichen.
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