Der längste Tag – die letzte Etappe
Am frühen Nachmittag nähern wir uns der letzten Station dieser Reise: Khajuraho. Es ist ein kleines, vergleichbar ruhiges Örtchen, das berühmt ist für seine ganz besonderen und uralten Tempel.
Unsere letzte gemeinsame Etappe auf der Rikscha, von Varanasi nach Khajuraho, hat uns noch einmal so richtig herausgefordert!!! 400 Kilometer mussten wir zurücklegen, um unser Ziel zu erreichen. Am Anfang lief alles bestens, mit fünfzig Kilometer pro Stunde sind wir über einen glatt geteerten Highway gebraust und hatten in gut zwei Stunden schon 100 Kilometer geschafft. Während einer Pause und einer eiskalten Sprite war Nagender schon euphorisch „wir schaffen es locker heute bis nach Khajuraho“, meinte er.
Weitere 80 Kilometer lief es so gut, bis wir offenbar eine Abzweigung verpasst haben. Wir hatten immer mal wieder auf dem Highway angehalten, um Unfallwracks am Straßenrand zu fotografieren (die werden nämlich in Indien anscheinend nie weggeräumt). Bei einem dieser Fotostopps war uns aufgefallen, dass wir bereits eine Weile in die falsche Richtung fuhren. Wir haben umgedreht und uns für eine Abzweigung entschieden, die uns vom Highway weg auf eine Landstraße führte. Kurze Zeit später standen wir bereits auf einer schmalen Straße, die mitten durch ein Dorf führte und voll war. Der Stau bestand hier nicht nur aus Fahrzeugen, sondern aus allem was sich fortbewegen kann – große und kleine Menschen, Kühe, Hunde, Radfahrer, Fahrradrikschas, Motorräder, Autos, Lastwagen und Busse. Am Rand der Straße war ein großer Lebensmittelmarkt aufgebaut. In dem Gewusel entdeckte ich Affen, die Backwaren und Frittiertes stibizten. Hier standen wir eine ganze Weile und die Mittagssonne ließ unsere Hirne unter den Helmen schmelzen.
Nachdem wir den Stau hinter uns hatten, wurde die Straße immer schmaler, bis sie schließlich endete. Aus Goolemaps flötete es fröhlich „15 Kilometer gerade aus“. Vor uns lag jedoch eine Buckelpiste aus Lehm, faustgroßen Steinen und Pfützen, so groß wie Badewannen. Es war bereits 16 Uhr, für die 40 Kilometer nach der Abzweigung hatten wir ganze vier Stunden gebraucht. In zwei Stunden würde die Sonne untergehen. Bis nach Khajuraho waren es noch rund 180 Kilometer. Keine Chance es noch bei Tageslicht zu erreichen. 20 Kilometer vor uns lag Chitrakoot. Eine Stadt, in der wir ein sicheres Hotel für die Nacht finden würden. Wir hatten seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, die Laune war hinüber. Chitrakoot war nun das neue Ziel.
Wir fuhren in die Buckelpiste hinein. Nach 50 Metern musste ich absteigen, die Löcher waren so groß, dass die Rikscha beinahe umkippte. Von rechts kamen dicke schwarze Wolken an. Ich konnte Blitze zucken sehen. Bitte nicht auch noch Regen! Unsere Nerven lagen blank. Als die Rikscha mit dem Hinterrad im Schlamm einer Pfütze stecken blieb, hat sich unsere Anspannung entladen und wir haben wir uns erstmal angebrüllt. Weswegen weiß ich schon gar nicht mehr. Stinksauer und schweigend habe ich die Rikscha dann geschoben und Nagi hat Gas gegeben. Beim dritten Schwung war der Blaue Blitz zwar der Braune Blitz und auch ich in eine Schlammkruste gehüllt, aber es konnte weiter gehen. Schweigend fuhren wir bis in die Dunkelheit hinein. Kaum war die Sonne untergegangen, hagelte es unzählige kleine schwarze Käfer. Zerdrückte man sie aus Versehen auf der Haut, roch es ganz wiederlich. In der Dunkelheit konnte Nagi sein Helmvisier nicht herunter klappen, sonst sah er nicht genug. Und nun flogen ihm auch noch die Käfer in die Augen.
Es war kurz vor acht am Abend, als wir in den Hof eines Hotels in Chitrakoot einfuhren. Wie elektrisiert sind wir von unseren Sitzen gesprungen und haben uns geschüttelt, um die Krabbeltiere los zu werden. Zwölf Stunden waren wir nun unterwegs. Die Haut auf unserem Sitzfleisch wundgescheuert, schmutzig von oben bis unten, mit verwuschelten Haaren und einem Bärenhunger sind wir in das Hotel eingefallen. Die Herren in Anzug hinter der Rezeption haben ganz schön verwundert geschaut, als sie uns gesehen haben. Zum Glück haben sie uns überhaupt ein Zimmer gegeben!
Alles heile
Nach einer Dusche, einem kühlen Bier und dem ersten Bissen vom Abendessen haben wir uns ausgiebig gegenseitig gelobt für diese Leistung und festgestellt, dass alles noch heile ist – Rikscha, Laune und Freundschaft!
Am nächsten Morgen sind wir noch vor Sonnenaufgang Richtung Khajuraho losgefahren. Schließlich wollten wir dieses Mal auf jedenfall vor Sonnenuntergang ankommen, komme was wolle! Doch die letzten 180 Kilometer gemeinsam auf der Rikscha vergingen wie im Flug! Als wir um kurz vor zwei am Mittag auf einer grünen Allee in das Dorf einfuhren, machte sich ein wenig Wehmut breit. „We did it, Chrissi“, hat Nagender gesagt. Wir haben es echt geschafft, wir sind nicht nur in Khajuraho angekommen, wir sind auch einmal quer durch Indien gefahren mit unserer Rikscha! Über 5000 Kilometer sind wir auf unserem Blauen Blitz und auf den Spuren der Liebe durch dieses unglaubliche Land gefahren!
Hier in Khajuraho wollen wir nun ein ganz besonderes Thema ergründen. Indiens größtes Tabu, Sex, scheint nämlich genau hier kein Tabu zu sein. Denn in diesem Dorf stehen über 1000 Jahre alte Tempel mit Statuen in erotischen Posen. Man sieht sie küssend, liebkosend und auch wie sie Sex haben in akrobatischen Stellungen. Nicht mal in Bollywoodfilmen gibt es annähernd solche freizügigen Sexszenen!
Wie kann das sein? Waren etwa die indischen Vorfahren freizügiger und offener als die Menschen heute? Um das heraus zufinden, sind wir hier! Ich bin gespannt!