Die Nachricht von Kanikas Hochzeit kommt an einem Samstagmorgen. Nagender wohnt seit einiger Zeit bei uns in Liederbach und wir arbeiten an unserem Vortrag. Es ist ein regnerischer Morgen, wir haben gerade gefrühstückt und sitzen noch gemütlich am Tisch, als Nagenders Handy klingelt. Ein Videoanruf. Auf dem Handydisplay erscheint Vikas, Nagenders Cousin. Die ersten Worte wechseln die beiden auf Hindi und dann hält Nagender mir das Handy vor die Nase. Ich sehe in Vikas‘ grinsendes Gesicht, er ist bei Nagenders Cousine und meiner guten Freundin Kanika zu Hause. Ich erkenne die Wohnung und sehe sie und eine Menge andere, bekannte und auch fremde Gesichter im Hintergrund. „Kanika got fixed“, sagt Nagender zu mir. Ich erschrecke. Das bedeutet, sie haben einen Mann für Kanika gefunden, frage ich. „Ja und sie wird ihn bald heiraten“, sagt Nagender.

Und obwohl ich wusste, dass dieser Moment kommen würde, dass Kanika mit einer arrangierten Hochzeit einverstanden ist und Nagender und ich extra durch ganz Indien gefahren sind, nur damit ich kapiere, wie es mit der Liebe in diesem Land läuft, habe ich in diesem Moment einen riesigen Kloß im Hals. Meine Gedanken rasen und meine Augen suchen Kanikas Blick. „Can i talk to her?“ frage ich Vikas. Er geht mit dem Handy in ihre Richtung. Ich sehe sie, meine aufgeweckte Freundin, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. Sie trägt ein Kopftuch, hält den Kopf gesenkt, die Arme dicht am Körper. Schüchtern schaut sie in die Handykamera und winkt mir. Ich möchte sie am liebsten durch das Display ziehen, bloß raus da! Für mich sieht sie aus wie eine Gefangene, ihre Persönlichkeit völlig unterdrückt, wie ein Gegenstand, der soeben den Besitzer gewechselt hat.

Neben ihr sitzt er. Dieser Typ wird ihr Mann. Ich finde ihn nicht akzeptabel, nicht schön genug, nicht intelligent genug, einfach nicht toll genug für meine bezaubernde Freundin. Nach ein paar Minuten bricht die Verbindung ab. Ich starre auf ein schwarzes Display und mir schießen die Tränen in die Augen. Nagender fällt aus allen Wolken. „Was ist los, Chrissi“, fragt er mich besorgt. Ich heule ihm meine Sorgen vor, es sind die selben, die ich hatte, bevor wir durch Indien gereist sind. Was ist, wenn sie ihn nicht lieben kann? Sie sah so unfrei aus, so unterdrückt, so fremdbestimmt. Es tut mir so weh, sie so zu sehen. „Aber sie möchte es so, Du weißt es. Sie ist so aufgewachsen, ihre Eltern haben sich genauso kennen gelernt und die meisten um sie herum auch, so funktioniert unsere Gesellschaft. Kanika ist darauf vorbereitet“, erklärt Nagender.

Als ich mich wieder beruhige, schaue ich mir die Bilder an, die Vikas geschickt hat. Ich sehe mir Kanikas Gesicht noch einmal an und auf einigen Bildern sehe ich sie sogar lachen. Und ich sehe den jungen Kerl an ihrer Seite. Ajay heißt er. So schlecht sieht er gar nicht aus, er scheint groß zu sein. Und ich sehe sein Gesicht, er sieht genauso schüchtern auf den Bildern aus wie Kanika. Auch für ihn muss das ganze Sache beängstigend und unendlich aufregend sein. Er hat gerade seine Ehefrau kennen gelernt, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wird, mit der er wahrscheinlich auch Kinder haben wird. Auf einmal erscheint er mir nicht mehr so ungenügend.

Nagender erklärt mir, wie es in den nächsten Wochen für die beiden weitergehen wird. „Sie werden sich treffen und telefonieren, sich Whatsapp schreiben und sich langsam kennen lernen.“ Er ist sich sicher, dass Kanika sich nach und nach immer mehr für Ajay interessieren wird und je näher die Hochzeit rückt auch Schmetterlinge im Bauch haben wird.

Ich kann es mir kaum vorstellen, dass es so funktioniert.

Das ist nun schon einige Wochen her. Am 4. Juni findet die Hochzeit statt. Wir werden natürlich da sein. Eben habe ich mit Kanika gesprochen. Sie hat gesagt, dass sie sehr aufgeregt sei und große Angst vor den Veränderungen habe. Nach der Hochzeit werde sie in Ajays Familie leben. Sie hat mir erzählt, dass sie sich schon ein paar Mal mit Ajay getroffen habe. Er sei sehr nett und würde sich sehr um sie bemühen. Er habe sie gefragt, welche Musik sie mag und was sie gerne tut, wenn sie gerade nicht studiert. Er habe sie auch gefragt, wie sie sich ihr Leben wünscht und was sie sich von ihm wünscht und auch, dass er sie schon sehr mag. Verliebt sei sie noch nicht in ihn, aber Ajay sei wirklich sehr nett, hat sie gesagt und wie ein kleines Mädchen gekichert.