Wunder der Natur
Nichts auf der Welt vermag uns Menschen so zu entzücken, wie die Natur. Der Anblick ihrer Schönheit ruft in uns Emotionen hervor, die wir sonst höchstens von der Liebe her kennen. Es gibt Momente, in denen wir beim Anblick der Natur erfürchtig ihre Gewaltigkeit erkennen, ihre Perfektion bestaunen und uns bewusst wird, dass wir selbst ein winzig kleiner, zerbrechlicher Teil von ihr sind.
Im März haben Nagender und ich beide einen solchen besonderen Moment erlebt. Davon möchte ich euch in diesem Blog-Eintrag erzählen.
März 2016 – Gujarath, Indien
Die Sonne geht bereits unter, als die Straße endet. Der Lehmboden verschwindet plötzlich unter einer weißen Kruste. Nagender hebt den Blick. Vor ihm erstreckt sich ein flaches, vollkommen weißes Land. Es reicht an allen Seiten bis zum Horizont. Ein bisschen sieht es aus, als bedecke hier ein unendliches weißes Laken die Erde. Nagender schaut in die Salzwüste Indiens, die Rann of Kachch.
Er stellt den Motor der Rikscha ab, verweilt einen Moment auf ihrem Sitz und blickt ins Weiß. Er kann kaum erkennen wo die Erde aufhört und der Himmel beginnt, es scheint alles eins zu sein. Zwei Anläufe, über 2000 Kilometer und einen Unfall hat es ihn gekostet, um hier am Rand der Salzwüste anzukommen. Es hat sich gelohnt, denkt er sich.
Die Luft ist dreißig Grad warm und trocken. Es ist still, nur ein leichter Wind weht um Nagenders Ohren. Er steigt ab und betritt die Salzkruste. Es knistert unter seinen Füßen. Es fühlt sich an, als trete er auf trockenes Laub.
Vorsichtig setzt Nagender einen Fuß vor den anderen, geht hinein ins unendliche Weiß. Auf dem Boden hat das Salz Wellen gezeichnet, manchmal hat es sich auch getürmt zu kleinen, harten Salzhaufen. Nagender entdeckt erstarrte Insekten auf der Oberfläche. Die Salzwüste hat ihnen das Leben ausgesaugt.
Die untergehende Sonne macht die Strukturen des Salzbodens sichtbar, Nagender nimmt seine Kamera. „Ich war furchtbar nervös“, erzählt er mir später. „Ich hatte keine Ahnung, wie ich diese Schönheit, dieses unendlich flache, weiße Land, einfangen sollte.“
Stunden verbringt Nagender an diesem Abend und auch in den folgenden Tagen auf der Salzkruste, um sie zu dokumentieren. Er fotografiert Touristen, die sich auf geschmückten Pferden vor dem weißen Land ablichten lassen und er stapft hinein, einen, vielleicht zwei Kilometer weit ins Innere der Wüste, bis er keine Menschenseele mehr sieht. Unter der Kruste tritt immer wieder Wasser hervor. Einst war dieser Boden Meeresgrund. Verdunstet das Wasser an Nagenders Hosenbein, bleibt das Salz daran zurück.
Noch nie hat er eine Landschaft gesehen, die so lebensfeindlich ist und doch so anziehend auf ihn wirkt, hat Nagender mir erzählt. Die Rann of Kachch ist eine bizarre Schönheit, ein Wunder der Natur.
März 2016, Bad Soden, Deutschland
Es ist früh am Morgen. Das Tageslicht hat das Dämmerlicht der Lampen im Kreißsaal abgelöst. Im Radio läuft der Soundtrack von Armageddon. Ich liege im Bett auf dem Rücken bin hellwach und es geht mir gut. Neben mir steht mein Freund Thilo, er ist gerührt, ich sehe Tränchen in seinen Augen. Am anderen Ende des Bettes sind die Hebamme und die Ärztin mit dem kleinen Wesen beschäftigt, das soeben auf die Welt gekommen ist. Sie reden miteinander in einem ruhigen Ton. Ich höre nicht zu, „so ist das also“, denke ich stattdessen und bin glücklich. Dieser Moment dauert nur wenige Sekunden. Es ist der Moment zwischen dem ersten Schrei meines Babys und dem Moment, in dem ich es zum ersten Mal sehen darf. Die plötzliche Ruhe nach dem Sturm der Geburt, der Beginn unseres neuen Lebens zu dritt. Die Hebamme bittet Thilo die Nabelschnur durchzuschneiden. Ich fühle mich wohl, weiß was als nächstes passieren wird.
Die Hebamme legt mir mein Baby auf die Brust. Ein winzig kleiner, nackter Junge. Mein Junge. Ich sehe ihn an, sehe seine offenen Augen, seine Nase, Mund und Ohren. Ich berühre seine Finger, seine Füße und Zehen. Es ist tatsächlich so, wie alle sagen, dieser magische erste Moment, wenn dein Baby geboren ist. Wir sind glücklich, überwältigt und verliebt. Unser kleiner Junge ist perfekt, ein kleiner Mensch, ein Wunder der Natur.
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