Sex aus Stein
Nagenders Wecker klingelt wie immer um 5 Uhr am Morgen. Wir wollen die berühmten Tempel von Khajuraho im schönsten Licht des Tages fotografieren und das ist nun mal bei Sonnenaufgang. Ihren Ruhm verdanken die rund 20 Tempel dieses Ortes der Bildhauerkunst, mit der sie verziert sind, vor allem den Figuren in erotischen Posen. Ich bin wirklich gespannt darauf, sie zu sehen. Nach all meinen Erfahrungen, die ich zum Thema Liebe in Indien gesammelt habe, kann ich mir kaum vorstellen, dass in diesem Land, in dem Sex das größte Tabu zu sein scheint, erotische Bildhauerkunst existiert und sogar öffentlich zu sehen ist.
Für Nagender ist das frühe Aufstehen kein Problem. Als er mich an diesem Morgen weckt, steht er – wie immer – geduscht, angezogen und bei bester Laune im Zimmer. Ich hingegen kriege meine verquollenen Augen kaum auf, brauche eine Ewigkeit um mich aus dem Bett zu schälen und fühle mich auf dem Weg zur Toilette wie zehn Tonnen schwer. Als ich auf meinem Kreuzgang ins Bad an Nagender vorbei krieche, mahnt er mich zur Eile, schließlich warte der Sonnenaufgang nicht auf uns. Ganz kurz wünsche ich mir, dass es draußen regnet.
Eine schnelle Dusche und ein heißer Kaffee wecken schließlich auch in mir die Lebensgeister. Unsere kleine „Frensh-Press“-Kaffee-Kanne begleitet uns übrigens auf allen unseren Touren. Auf Frühstück können wir beide ganz gut verzichten, aber auf keinen Fall auf unseren geliebten Kaffee.
Nagi schultert seinen 20 Kilo schweren Fotorucksack, ich schnappe mir die GoPro und meinen Notizblock und wir marschieren hinaus ins Morgengrauen. Es ist noch still auf den Straßen, kein Auto, kein Hupen. Die TukTuks stehen am Bürgersteig. Ihre Fahrer hocken neben Tee-Ständen und schlürfen Chai. Eine Kuh trottet über den Asphalt. In der Nähe der Tempel vollziehen indische Frauen und Männer ihr tägliches Gebet und umkreisen murmelnd, mit gefalteten Händen die Statue des hinduistischen Gottes Hanuman.
1000 Jahre alte Erotik
Wir kaufen zwei Eintrittskarten für den Tempelbereich von einer Frau in blauer Uniform. Neben ihr steht ein bewaffneter Soldat. Wir erfahren, dass wir auch zwei Genehmigungen zum Fotografieren und eine Erlaubnis für unsere Videokamera kaufen müssen. Wir betreten das abgesperrte Areal, in dem die Tempel liegen. Die Tempel sind aus weichem, hellbraunem Sandstein. Sie stehen auf rund drei Meter hohen Podesten und sind umgeben von einer gepflegten, blühenden Parkanlage.
Schon von Weitem kann ich erkennen, dass die Tempelwände übersäht sind mit Skulpturen. Auf einer Hinweistafel lese ich, dass diese Bauten und ihre Bildhauerkunst über 1000 Jahre alt sind! Sie wurden zwischen den Jahren 900 und 1050 nach Christus erbaut. Unglaublich, wie gut sie noch erhalten sind! Vor den Stufen ziehen wir unsere Schuhe aus, steigen sie hinauf und spazieren mit bloßen Füßen um einen der Haupttempel herum. Die Bodenplatten sind auch aus rot-braunem Sandstein und fühlen sich angenehm weich und warm an. Ich kann meinen Blick nicht mehr von der Tempelwand lösen.
Ich entdecke hunderte Figuren, manche sind nur ein paar Zentimeter groß, andere messen über einen Meter. Es sind Menschen, Männer und Frauen, Tiere, Elefanten, Drachen und Pferde. Ganze Szenen finden sich an den Wänden – Szenen aus dem Krieg – Männer mit Waffen in kämpferischen Posen, ganze Armeen aus Menschen und Tieren entdecke ich. Und tatsächlich, neben den Kriegsszenen haben die Bildhauer Sexszenen in den Stein geschlagen. Frauen mit riesigen, prallen Brüsten und verführerischem Blick, andere, die sich räkeln. Mann und Frau in inniger Umarmung, küssend und liebkosend. Ich entdecke Hände auf vollen Brüsten, zarte Berührungen an nackter, steifer Männlichkeit, Frauen, die sich mehreren Männern gleichzeitig hingeben, viele Menschen, die sich gegenseitig mit Zärtlichkeiten verwöhnen. In der Mitte der Wand haben Paare Sex in akrobatischen Stellungen, dabei werden sie von ihren Zuschauern unterstützt und gehalten. Obwohl diese Skulpturen tausend Jahre alt und dazu noch aus Stein sind, strahlen sie Erotik aus. Sie verherrlichen die Lust, die Verführung, den Sex in jeder Form. Der menschliche Geschlechtsakt ist hier als schön, natürlich und öffentlich dargestellt.
Sex – das große Tabu, im Land des Kamasutras
Ein völlig paradoxes Bild ist es für mich, die Inder hier vor diesen Statuen zu sehen. Sie sehen sie an, falten ihre Hände und flüstern ihre Gebete. Kein verschämter Blick zum Boden, kein schelmisches Grinsen sehe ich in ihren Gesichtern, wenn sie die erigierten männlichen Geschlechtsteile aus Stein ansehen, als sei Sex für sie kein Tabu sondern etwas göttliches.
Drei Stunden verbringen wir an den Tempeln, beobachten, fotografieren, verlieren uns in den Details der Bildhauerkunst. Als die Sonne bereits hoch am Himmel steht, verlassen wir das Gelände und setzen uns auf die Dachterrasse eines gemütlichen Kaffees um zu frühstücken. Wir wundern uns, wie frei die Menschen vor 1000 Jahren offenbar mit dem Thema Sex umgegangen sind und fragen uns, was passiert sein könnte, dass daraus ein Tabu geworden ist.
In Khajuraho gilt, was sich im Rest des Landes offenbar keiner traut – Sex sells. An jeder Ecke kann man das „Kamastura“ kaufen – die geschriebene Lehre der körperlichen Liebe. Auch ein Produkt aus Indien, das vor vielen hundert Jahren entstanden ist. Auch Schlüsselanhänger mit Figuren, die eine Orgie vollziehen, oder vollbusigen Frauen oder analsex-habenden Paaren kann man kaufen. Kein Problem, kein Tabu, nur 100 Rupien.
Liebe in Indien ist wirklich nicht einfach zu verstehen. Über 5000 Kilometer weit sind wir nun auf ihren Spuren gereist und so ganz begreifen, kann ich sie noch immer nicht. Doch ich habe ein Bild von ihr und ich werde euch gerne davon erzählen, das ist versprochen.
In Khajuraho finden wir noch einen alten Mann, der ein paar Antworten auf unsere Fragen zum Thema Sex hat. Wir nehmen ihn auf Video auf, besuchen anschließend noch einen wunderschönen Wasserfall, trinken am Abend zusammen ein Bierchen und versuchen zu begreifen, dass unsere Reise nun zu Ende geht. Mein kleiner Junge wartet auf mich zu Hause. Ich habe schreckliches Heimweh nach ihm und nehme schon von Khajuraho aus den Flieger nach Delhi und fliege von dort aus weiter nach Frankfurt. Nagender bringt die Rikscha allein zurück nach Delhi. Am Morgen unserer Abreise fährt er mich auf unserem Blauen Blitz zum Flughafen.
Unsere gemeinsame Reise durch Indien ist zu Ende und ein bisschen tut es weh. Doch es liegt noch so viel vor uns! Schließlich wollen wir demnächst gemeinsam durch Deutschland reisen, um Euch allen von unserer unglaublichen Tour auf dem Blauen Blitz durch Indien auf den Spuren der Liebe zu erzählen!!! Darauf freuen wir uns!
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